text: leowee | fotos: ivan schneider | berlin 2005

_mutter

I.

Was das soll, fragst du. Wem ich mit diesem Zeug im Gesicht überhaupt gefallen will? Wenn nicht dir. War ich doch immer so ein nettes Mädchen. Was für ein Jammer.

Du hast Recht, Mutter. Alles verbergen zu müssen, um zu überleben, ist nicht nett. Aber auch kein eitler Flitter. Die Schminke retuschiert die Spuren meiner wachen Nächte voller Angst. Verdeckt mein Kindergesicht mit seiner beschissenen Bedürftigkeit. Weist mich als Frau aus, die ich darbieten musste, kaum dass du mich geboren hattest.

Ja, Mutter, deine Tochter ist eine Hure. Keine vier Jahre alt, da wurde sie schon zur Hure. Sie hat dir den Mann ausgespannt, die kleine Lolita, und ihm gegeben, was du ihm verweigert hast. Hat ihn dir sozusagen vom Leib gehalten, wenn das kein Liebesdienst war. Konntest dich ganz und gar deinen Büchern hingeben.

Dabei habe ich so schön im Garten gespielt, nicht wahr. Balancierte auf dem schwarzen Schaukelpferd, die Arme ausgebreitet, und gab alles, Kunstreiterin, Clown, Direktorin. Das Pferd hieß Balthasar. Auf der Zuschauertribüne saß Gott. Du hast ja immerzu lernen müssen, Altgriechisch und Hebräisch, damit du eines Tages selbst Pfarrerin bist und fort kannst von ihm. Die Buchstaben deiner Bücher sahen aus wie Fliegendreck.

 

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