text: leowee | fotos: ivan schneider | berlin 2005

_mutter

II.

Morgens schloss ich mich immer im Klo ein, weißt du noch? Sie hat einen nervösen Magen, attestierten die Ärzte. Das Kind hat etwas Ätherisches, schwärmten die Lehrer. Du bist irgendwie anders, fanden meine Klassenkameraden. Darum konnte ich nicht mehr zur Schule. Wenn ich mich winselnd an die Türklinke klammerte, durfte ich zu Hause bleiben. Ich lief dann Rollschuh.

Sei froh, Mutter, dass deine Tochter so ein schlaues Kerlchen war und das wochenlange Schwänzen ihre Leistungen nicht schmälerte. Zuverlässig war sie die Klassenbeste und auf jedes Geburtstagsfest geladen. Nicht zu vergessen die schönen Bilder, die sie gemalt, die Geschichten, die sie dazu erzählt hat, von Mama und Papa und Matze und Pony und alle hatten sich lieb. Da hat niemand Verdacht geschöpft. Du warst immer mein Aushängeschild, dass bei uns alles in Ordnung ist, hast du später gesagt. Es war mir eine Ehre.

Doch hast du vergessen, wie oft du die Tochter nachts in die Notaufnahme gefahren hast, wenn sie würgend nach Luft rang oder das Fieberthermometer heiß gerieben hatte? Was diesem hohläugigen Kind denn nur fehle, man möge das doch mal feststellen, hast du die Ärzte bekniet und jedes Mal klang deine Stimme schriller. Wir waren auf allen Stationen bekannt. Mit jeder nur denkbaren Gerätschaft oder Tinktur durchleuchteten sie meine Organe, gefunden haben sie nichts.

Ich hätte mir eher die Zunge abgebissen, als dir im Krankenhaus von mir zu erzählen. Du hättest sowieso nicht zugehört. Hast dagesessen an meinem Krankenbett, dein Buch auf den Knien, deine Augen weit fort. Hattest den Draht zu mir längst gekappt.

Ich bin am Ende, hast du geheult. Das kann doch nicht ewig so weitergehen! Da habe ich dich erpresst. Damit deine Tochter wieder zur Schule geht, musstest du dem Alten Geld aus dem Kreuz leiern. Reitstunden sind schließlich teuer.

 

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